VfGH 6747

Hinderung eines Untersuchungsgefangenen an der Teilnahme an einem Gottesdienst; keine Verletzung des Rechtes auf Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 14 StGG) und auf Religionsfreiheit (Art. 9 MRK); kein Entzug des gesetzlichen Richters.

Erk. v. 20. Juni 1972, B 223/69

Der Beschwerdeführer ist dadurch, dass er im Juni 1969 an der Teilnahme am evangelischen Gottesdienst im Gefangenenhaus II des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom Antragsteller gehindert worden ist, in keinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden; seine Beschwerde wird daher abgewiesen.

Entscheidungsgründe:

1.1. Der Beschwerdeführer befand sich in der Zeit vom 30. Mai bis 17. September 1969 im Gefangenenhaus II des Landesgerichtes für Strafsachen Wien in Untersuchungshaft. Er ersuchte zu wiederholten Malen um die Bewilligung zur Teilnahme an dem in diesem Gefangenenhaus wöchentlich stattfindenden evangelischen Gottesdienst. Diese Ersuchen wurden von der Anstaltsleitung abgelehnt. Am 30. Juni 1969 richtete der Beschwerdeführer eine schriftliche Eingabe an den Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien, in dem er der Anstaltsleitung vorwarf, ihn schikanös an der Ausübung seines Religionsbekenntnisses zu  hindern und beantragte, „gegen diese Exzesse einzuschreiten“. Am 1. und 4. Juli richtete er zwei weitere Eingaben an den Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien, in welchen er eine Bestätigung des Eingangs seiner Beschwerde vom 30. Juni begehrte. In Erledigung dieser Eingaben ersuchte der Präsident des Oberlandesgerichtes Wien mit Schreiben vom 16. Oktober 1969 Jv 10.427-30 a/69, den Präsidenten des Landesgerichtes für Strafsachen Wien „dem Untersuchungsgefangenen Wolf E., zu seinen Eingaben vom 30. 6., 1. 7, und 4. 7. 1969 mitzuteilen, daß zu dienstaufsichtsbehördlichen Maßnahmen kein Anlaß gefunden wurde.”

Diesem Auftrag konnte der Präsident des Landesgerichtes für Strafsachen Wien jedoch nicht entsprechen, weil der Beschwerdeführer am 7. Oktober 1969 an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert worden war.

1.2. Der Beschwerdeführer wendet sich dagegen, daß ihm die Teilnahme am Gottesdienst unmöglich gemacht worden ist und nicht etwa gegen eine förmliche Abweisung seines Ansuchens um Bewilligung zur Teilnahme am Gottesdienst. Ein förmlicher Bescheid über sein diesbezügliches Begehren sei ihm nämlich gar nicht zugegangen. Er behauptet, durch diese Maßnahme in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf freie Religionsausübung (Art. 14 StGG.) verletzt worden zu sein.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen

2.1. Es ist dem Beschwerdeführer darin beizupflichten, daß er von der Teilnahme am Gottesdienst abbehalten worden ist, ohne daß — jedenfalls vorher. — über sein dahingehendes Begehren bescheidmäßig abgesprochen worden wäre. Der Verfassungsgerichtshof erblickt in dieser Maßnahme einen unmittelbaren Eingriff in die Rechtssphäre des Beschwerdeführers, also eine faktische Amtshandlung, die als solche unmittelbar mit Beschwerde nach Art. 144 B-VG. angefochten werden kann (vgl. dazu insbesondere Erk. Slg. Nr. 4948/1965, aber auch Slg. Nr. 5195/1966 5635/1967, 5883/1969 , 6502/1971). Diese Amtshandlung ist, wie in der Gegenschrift zur Beschwerde richtig dargelegt wird, gemäß §§ 621 ff. GeO., BGBl. Nr. 264/1951 in der geltenden Fassung, und Art. 5 des Verwaltungsersparungsgesetzes, BGBl. Nr. 76/1926, dem Präsidenten des Landesgerichtes für. Strafsachen Wien zuzurechnen. Daß der Beschwerde gegen diese Amtshandlung das Prozeßhindernis der Nichterschöpfung des Instanzenzuges (Art. 144 Abs. 1 B-VG.) nicht entgegensteht, ist schon gesagt worden.

2.2. Von der seelsorgerischen Betreuung der Untersuchungsgefangenen ist im § 186 StPO. in seiner vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 10. Mai 1972, BGBl. Nr. 143, in Geltung gestandenen — hier maßgeblichen — Fassung, im § 640 GeO. und im 9 der „Hausordnung für gerichtliche Gefangenhäuser”, Erlaß des Bundeskanzlers vom 11. März 1925, Zl. 207.704-31/24, in der geltenden Fassung die Rede. Die beiden erstgenannten Bestimmungen regeln diese Frage jedoch nur unter dem Gesichtspunkt des Rechtes des Untersuchungsgefangenen, den Besuch eines Geistlichen zu empfangen, nicht aber unter dem der Teilnahme an gottesdienstlichen Veranstaltungen, die in der Anstalt abgehalten werden. Keine dieser Vorschriften kommt daher als Rechtsgrundlage der hier angefochtenen Amtshandlung in Betracht. § 9 der Hausordnung für gerichtliche Gefangenhäuser wiederum besagt:

„Die Bestimmung über die Teilnahme am Gottesdienst und a den kirchlichen Heilsmitteln enthält die Gottesdienstordnung.”

Eine solche Gottesdienstordnung ist jedoch niemals erlassen worden. Es existierte zu der Zeit, als die angefochtene Amtshandlung gesetzt wurde, auch keine andere Rechtsvorschrift, die im besonderen die Teilnahme von Untersuchungsgefangenen an Gottesdiensten geregelt hätte. Dennoch ist der Verfassungsgerichtshof nicht der Ansicht, daß der Beschwerdeführer durch die angefochtene Amtshandlung in seinem durch Art. 14 StGG. gewährleisteten Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit oder in dem durch Art. 9 MRK. gewährleisteten Anspruch auf Religionsfreiheit verletzt worden ist. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erk. Slg. Nr. 6265/1970 — aus Anlaß der Beschwerde eines ‘Untersuchungsgefangenen gegen die bescheidmäßige Ablehnung seines Ansuchens, zur Ausübung seines Wahlrechtes bei der am 1. März 1970 stattgefundenen Wahl ausgeführt zu werden — festgestellt hat, besteht grundsätzlich keine Verpflichtung des Staates, „in den Fällen eines gesetzmäßig verhängten Freiheitsentzuges besondere Vorkehrungen zu treffen, um den Betroffenen die Ausübung ihres Individualrechtes zu ermöglichen.” Dies gilt auch für den vorliegenden Beschwerdefall. In der Zeit, als die angefochtene Maßnahme gesetzt wurde — die heutige Rechtslage ist hier unmaßgeblich und daher nicht zu prüfen — gab es keine Rechtsvorschrift, die eine Verpflichtung des Staates begründet hätte, Vorkehrungen dafür zu treffen, daß Untersuchungsgefangene an einem Gottesdienst beliebiger Konfession teilnehmen können. In dem durch Art. 14 StGG. gewährleisteten Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit und in dem durch Art. 9 MRK. gewährleisteten Anspruch auf Religionsfreiheit ist der Beschwerdeführer schon allein deshalb nicht verletzt worden.

2.3. Nun haben aber im Gefangenenhaus, in dem der Beschwerdeführer angehalten wurde, tatsächlich evangelische Gottesdienste – nur an diesen wollte der Beschwerdeführer teilnehmen — stattgefunden. Bei dieser Sachlage könnte die Ausschließung eines Untersuchungsgefangenen eine Verletzung des Gleichheitsrechtes bedeuten. Da aber dieses Recht nach         Art 7 B-VG. nur österreichischen Staatsbürgern gewährleistet, der Beschwerdeführer nach der sein  Vorbringen wiedergebenden Aktenlage jedoch deutscher Staatsangehöriger ist kann im vorliegenden Fall eine Gleichheitsverletzung nicht stattgefunden haben.

2.4. Zu 2.2. ist festgestellt worden daß in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt keine Rechtsvorschrift bestanden hat, die im besonderen die Teilnahme von Untersuchungsgefangenen  an Gottesdiensten geregelt hätte. Es ist daher auch noch zu prüfen, ob der Beschwerdeführer nicht etwa deshalb, weil sich die angefochtene Amtshandlung auf keine gesetzliche Grundlage zu stützen vermochte, in seinem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art. 83 Abs. 2 B-VG.) verletzt worden ist. Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes ist auch das nicht der Fall. § 183 stopp. in seiner vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 10. Mai 1972, BGBl. Nr. 143, in Geltung stehenden Fassung, ermächtigte die belangte Behörde, dem Untersuchungsgefangenen jene Beschränkungen aufzuerlegen, „die erforderlich sind, um sich seiner Person zu versichern und für die Untersuchung nachteilige Verabredungen zu hindern“. Nach dem Inhalt der Verwaltungsakten waren die evangelischen Gottesdienste im Gefangenenhaus II des Landesgerichtes für Strafsachen Wien während der hier maßgeblichen Zeit derart stark frequentiert, daß sich die Gefangenenhausverwaltung „aus disziplinären Gründen“ (zitiert aus dem Bericht der Gefangenenhausverwaltung an den Präsidenten des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 30. Juli 1969) veranlaßt sah, den Besuch dieser Gottesdienste zu beschränken. Eine solche „disziplinäre“ Maßnahme aber war durch die oben wiedergegebene Vorschrift des § 183 StPO. gedeckt. Der Beschwerdeführer ist demnach auch im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter nicht verletzt worden.

2.5 Da im Verfahren auch die Verletzung eines anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts nicht hervorgekommen ist, mußte die Beschwerde als unbegründet abgewiesen werden.