VfGH 2507

Gesetzmäßigkeit des Erlasses des Unterrichtsministeriums, betreffend das Disziplinarverfahren für kirchlich bestellte Religionslehrer. Begriff „Disziplinarvorschriften der Schulgesetze” des Gesetzes BGBl. Nr. 190/1949 § 3 Abs 4. Die Disziplinarstrafgewalt setzt begrifflich den Bestand eines Dienstverhältnisses zum Träger der Diensthoheit voraus. Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes zur Überprüfung von generellen Dienstanweisungen.

Erk. v. 28. März 1953, V 26/52.

Dem Antrag der Wiener Landesregierung wird keine Folge gegeben.

Tatbestand:

Die Wiener Landesregierung hat in ihrer Sitzung vom 9. Dezember 1952 den Beschluß gefaßt, gemäß Art. 139 B.-VG. die Aufhebung des Erlasses des Bundesministeriums für Unterricht vom 22. April 1952, Zl. 7276-IV/20a/51, betreffend das Disziplinarverfahren für kirchlich bestellte Religionslehrer, wegen Gesetz-Widrigkeit zu beantragen.

Der im Verordnungsblatt für den Dienstbereich des Bundesministeriums für Unterricht vom 1. Juni 1952 unter Nr. 71 kund- gemachte Erlaß hat folgenden Wortlaut:

„Disziplinarverfahren für kirchlich bestellte Religionslehrer.

Gemäß § 3 Abs. 4 des Bundesgesetzes vom 13. Juli 1949, be- treffend den Religionsunterricht in der Schule, BGBl. Nr. 190, unterstehen alle Religionslehrer in der Ausübung ihrer Lehrtätigkeit den Disziplinarvorschriften der Schulgesetze. Da die kirchlich (religionsgesellschaftlich) bestellten Religionslehrer in keinem Dienstverhältnis zur Gebietskörperschaft,          – sondern nur zur betreffenden Kirche (Religionsgesellschaft) stehen, hat die staatliche Schulaufsichtsbehörde im Falle der Übertretung einer schulrechtlichen Vorschrift oder des Verdachtes einer solchen Übertretung durch einen kirchlich bestellten Religionslehrer ohne Vornahme weiterer Untersuchungshandlungen lediglich die Anzeige an die zuständige kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde zu erstatten, die die weiteren Veranlassungen zu treffen hat.

Nur in jenen Fällen, in denen Gefahr im Verzuge ist, daß das Weiterverbleiben des betreffenden Religionslehrers in der Schule schwere Schädigungen der Interessen der Schule oder der Schüler mit sich bringt, wird — unter gleichzeitiger Mitteilung an die zuständige kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde — als vorläufige Maßnahme bis zur Entscheidung durch die zuständige kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde ein sofortiges Verbot der Unterrichtserteilung durch die staatliche Schulbehörde zu erlassen sein.”

Entscheidungsgründe :

Mit dem von der Wiener Landesregierung angefochtenen Erlaß hat das Bundesministerium für Unterricht die Schulaufsichtsbehörden angewiesen, im Fall der Übertretung einer schulrechtlichen Vorschrift durch einen kirchlich bestellten Religionslehrer sowie bei Verdacht einer solchen Übertretung, ohne Vornahme weiterer Untersuchungshandlungen, die Anzeige an die zuständige kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde zur weiteren Veranlassung zu erstatten; nur bei Gefahr im Verzuge, wenn das Weiterverbleiben des Religionslehrers in der Schule schwere Schädigungen der Schule oder der Schüler mit sich bringt, sei als vorläufige Maßnahme ein sofortiges Verbot der Unterrichtserteilung durch die staatliche Schulbehörde zu erlassen. Dieser Erlaß stellt sich nach seinem Inhalt — Dienstanweisung an die nachgeordneten Behörden — als generelle Norm einer Verwaltungsbehörde und sohin als Verordnung dar, was übrigens das Bundes-Ministerium für Unterricht in seiner gemäß § 58 Abs. 2 VerfGG. erstatteten Äußerung ausdrücklich zugibt. Kommt dem Erlaß Verordnungscharakter zu, dann ist die Voraussetzung für die Überprüfung seiner Gesetzmäßigkeit durch den Verfassungsgerichtshof im Sinne des Art. 139 B-VG. gegeben.

Die antragsteilende Landesregierung erachtet, daß dem Erlaß die im Art. 18 B.-VG. geforderte Grundlage fehle, da sich kein Gesetz finden ließe, aus dem zu entnehmen wäre, daß die Übertretung schulrechtlicher Vorschriften durch einen kirchlich (religionsgesellschaftlich) bestellten Religionslehrer durch die kirchliche (religionsgesellschaftliehe) Behörde zu ahnden ist. Überdies stehe der Erlaß mit § 3 Abs. 4 des Bundesgesetzes vom 13. Juli 1949, BGBl. Nr. 190, betreffend den Religionsunterricht in der Schule, demzufolge alle Religionslehrer in der Ausübung ihrer Lehrtätigkeit den Disziplinarvorschriften

der Schulgesetze unterstehen, in direktem Widerspruch, weil diese Vorschriften das im Erlaß angeordnete Verfahren und kirchliche Behörden als Disziplinarbehörden nicht kennen.

Dieser Anschauung vermochte sich der Verfassungsgerichtshof nicht anzuschließen. Der angefochtene, Verordnungscharakter tragende Erlaß nimmt ausdrücklich auf § 3 Abs. 4 des Gesetzes über den Religionsunterricht in der Schule Bezug. Er zieht aus der Rechtslage, die sich nach Ansicht des Bundesministeriums für Unterricht aus dieser Bestimmung sowie aus der Bestimmung des § 5 Abs. 2 des Gesetzes, derzufolge die Bestellung von Religionslehrern durch die gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft ein Dienstverhältnis zu den Gebietskörperschaften (Bund, Länder) nicht begründet, ergibt, Schlußfolgerungen über die Handhabung der Disziplinargewalt gegenüber den kirchlich (religionsgesellschaftlich) bestellten Religionslehrern. Die Gesetzmäßigkeit des Erlasses hängt also von der Beantwortung der Frage ab, ob die vom Bundesministerium für Unterricht aus dem Gesetz über den Religionsunterricht in der Schule gezogenen Schlußfolgerungen im Gesetz begründet sind. Zu diesem Zweck ist in erster Linie zu prüfen, welche Bedeutung dem im § 3 Abs. 4 des Gesetzes BGBl. Nr. 190/1949 gebrauchten Worten „Disziplinarvorschriften der Schulgesetze” zukommt. Die Wiener Landesregierung versteht darunter die die Ahndung von Pflichtverletzung regelnden Vorschriften, also Disziplinarverfahrens- und -zuständigkeitsbestimmungen, während nach Meinung des Bundesministeriums für Unterricht nur jene schulrechtlichen Vorschriften verstanden werden können, die sich mit der Schulordnung befassen und die als Verhaltensvorschriften für die Lehrer anzusehen sind.

Es ist zuzugeben, daß der Ausdruck „Disziplinarvorschriften” im gegebenen Zusammenhang nicht sehr glücklich gewählt ist und daher leicht zu der Auffassung führen kann, die dem Überprüfungsantrag der Wiener Landesregierung zugrunde liegt. Eine nähere Prüfung ergibt aber, daß mit diesem Ausdruck nicht dienststrafrechtliche Verfahrens- und Kompetenzvorschriften verstanden werden können, sondern die Gesamtheit der das Verhalten und die Pflichten der Lehrkräfte materiell regelnden Bestimmungen. Dies aus folgenden Gründen:

Die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage vom Jahre 1949 enthalten keinen unmittelbaren Anhaltspunkt dafür, welche Bedeutung der Gesetzgeber dem Ausdruck „Disziplinarvorschriften der Schulgesetze” beilegt. Sie verweisen nur darauf, daß der Gesetzentwurf hinsichtlich der Rechtsstellung der Religionslehrer im wesentlichen den Grundsätzen des bis 1938 bestandenen Rechtszustandes folgt. Bis zu diesem Zeitpunkt ist das Gesetz vom 20. Juni 1872, RGBI. Nr. 86, betreffend die Besorgung des Religionsunterrichtes in den öffentlichen Volks- und Mittelschulen sowie in den Lehrerbildungsanstalten und den Kostenaufwand für denselben, in Geltung gestanden. Die Wiener Landesregierung hebt in ihrem Antrag selbst hervor, daß § 3 Abs. 4 des Gesetzes BGBl. Nr. 190/1949 fast wörtlich mit dem § 7 des Gesetzes RGBI. Nr. 86/1872 übereinstimmt, der folgenden Wortlaut hat:

„Wer den Religionsunterricht an einer Schule erteilt, untersteht in der Ausübung seiner Lehrtätigkeit den Disziplinarvorschriften der Schulgesetze.”

Dieser Paragraph war in der Regierungsvorlage (Nr. 34 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses — VII. Session) noch nicht enthalten, er wurde erst im Zuge der parlamentarischen Beratung in den Entwurf eingefügt. Der Bericht des Unterrichtsausschusses des Abgeordnetenhauses (Nr. 124 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses — VII. Session) sagt hiezu folgendes:

„Sollen die Störungen vermieden werden, welche für die Erreichung des Schulzweckes im hohen Grade abträglich wären, haben auch diejenigen, welche an einer Schule den Religionsunterricht erteilen, ohne mit Gehalt oder Remuneration angestellt zu sein, bei Ausübung ihrer Lehrtätigkeit ihr Verhalten so einzurichten, daß dasselbe den Schulgesetzen und Schulvorschriften entspricht, und es muß den Schulbehörden im Interesse der Schule das Recht zustehen, gegen die Zuwiderhandelnden einzuschreiten. Es wurde daher, obwohl sich dies schon aus dem Reichsvolksschulgesetz ergibt, die betreffende Bestimmung im § 7 aufgenommen.”

Die Stelle des Reichsvolksschulgesetzes vom 14. Mai 1869, RGBI. Nr. 62, auf die der Unterrichtsausschuß Bezug nimmt, findet sich im § 5 dieses Gesetzes und lautet:

Die Religionslehrer, die Kirchenbehörden und Religionsgenossenschaften haben den Schulgesetzen und den innerhalb derselben erlassenen Anordnungen nachzukommen.

In Übereinstimmung mit dieser Bestimmung des Reichsvolksschulgesetzes besagt § 129 Abs. 2 der Schul- und Unterrichtsordnung vom 29. September 1905, RGBI. Nr. 159, daß die von den Kirchen und Religionsgesellschaften bestellten Religionslehrer in Ausübung ihrer Lehrtätigkeit den Schulgesetzen und den innerhalb derselben erlassenen Anordnungen, insbesondere den Bestimmungen der Schul-und Unterrichtsordnung, wie die übrigen Lehrer nachzukommen haben, und der Abs. 3 dieser Verordnungsstelle bestimmt, daß vor dem Einschreiten in einzelnen Fällen nach Tunlichkeit Verhandlungen

mit der betreffenden Kirchenbehörde bzw. dem Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde einzuleiten sind.

Aus dieser Entwicklungsgeschichte geht mit voller Deutlichkeit hervor, daß die Unterstellung der Religionslehrer unter die „Disziplinarvorschriften der Schulgesetze” die Bindung dieser Lehrkräfte an die bestehenden Schulvorschriften bezweckte, keinesfalls aber eine Unterwerfung unter die Disziplinarstrafgewalt der Schulbehörde. Denn wenn nach dem Bericht des Unterrichtsausschusses den Schulbehörden das Recht des „Einschreitens gegen Zuwiderhandlungen” zustehen soll und wenn auch § 129 der Schul- und Unterrichtsordnung von einem „Einschreiten in einzelnen Fällen” spricht, so bedeutet das lediglich die übrigens selbstverständliche Befugnis der Schulbehörden zur Abstellung etwaiger ‘ Mißstände, nicht aber die – Einräumung einer Disziplinarstrafbefugnis. Der angefochtene Erlaß steht daher mit der Bestimmung des § 3 Abs. 4 des Gesetzes BGBl. Nr. 190/1949 nicht im Widerspruch.

Dem Erlaß fehlt aber auch nicht die durch Art. 18 B.-VG. geforderte gesetzliche Grundlage. Er zieht, wenn er die staatlichen Schulaufsichtsbehörden anweist, im Falle der Übertretung einer schulrechtlichen Vorschrift oder des Verdachtes einer solchen Übertretung zunächst die Anzeige an die zuständige kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde zu erstatten, nur die Folgerung aus der Bestimmung des § 5 Abs. 2 des Gesetzes, derzufolge die gemäß § 3 Abs. 2 lit. b von den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften erfolgende Bestellung von Religionslehrern ein Dienstverhältnis zu den Gebietskörperschaften (Bund, Länder) nicht begründet. Die Ansicht, daß den Schulaufsichtsbehörden eine Disziplinarstrafgewalt gegenüber solchen Religionslehrern nicht zusteht, ist im Gesetz durchaus begründet, da die Ausübung einer Disziplinarstrafgewalt begrifflich den Bestand eines Dienstverhältnisses zum Träger der Diensthoheit voraussetzt. Dieser Grundsatz hat übrigens in der Bestimmung des § 1 des Lehrerdienstrechts-Kompetenzgesetzes vom 21. April 1948, BGBl. Nr. 88 — eines Verfassungsgesetzes des Bundes —, daß das Disziplinarrecht der Lehrer an den öffentlichen Schulen aller Kategorien zum Dienstrecht gehört, seinen Niederschlau gefunden.

Wenn die Wiener Landesregierung in diesem Zusammenhang darauf verweist, daß es kein Gesetz gäbe, demzufolge die Übertretung schulrechtlicher Vorschriften durch einen kirchlich (religionsgesellschaftlich) bestellten Religionslehrer durch die kirchliche (religionsgesellschaftliche) Behörde zu ahnden sei, so übersieht sie dabei, daß der angefochtene Erlaß den kirchlichen (religionsgesellschaftlichen) Behörden keineswegs konstitutiv eine Disziplinarstrafgewalt einräumt,

sondern der Tatsache Rechnung tragend, daß den Schulaufsichtsbehörden eine Disziplinarstrafgewalt über solche Religionslehrer nicht zusteht, die Schulaufsichtsbehörden lediglich anweist, Übertretungen schulrechtlicher Vorschriften der kirchlichen (religionsgesellschaftlichen) Behörde anzuzeigen, der es überlassen bleiben muß, nach ihrem Ermessen und nach Maßgabe der kirchlichen (religionsgesellschaftlichen) Vorschriften die weiteren Folgerungen aus dem Verhalten des Religionslehrers zu ziehen, während den Schulaufsichtsbehörden zur Wahrung der ihnen anvertrauten Schuldisziplin und der Aufrechterhaltung eines geregelten Unterrichtsbetriebes jederzeit das Recht zusteht, ein sofortiges Verbot der Unterrichtserteilung zu erlassen, welches Recht seine Grundlage im § 2 Abs. 1 des Gesetzes BGBl. Nr. 190/1949 findet.

Da sohin der angefochtene Erlaß im Bundesgesetz vom 13. Juni 1949, BGBl. Nr. 190, betreffend den Religionsunterricht in der Schule, seine Deckung findet, war dem Antrag der Wiener Landesregierung keine Folge zu geben.

VfGH 2494

Verletzung des Rechtes der Versammlungsfreiheit. Freiheit der Meinungsäußerung. Abhaltung einer Versammlung durch eine Religionsgesellschaft „in der hergebrachten Art” ist vom Versammlungsgesetz ausgenommen. Mangelhafte Erhebungen der Behörde. Kultusübung.

Erk. v. 24. März 1953, B 185/52.

Durch den angefochtenen Bescheid ist der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Versammlungsrecht verletzt worden. Der Bescheid wird daher als verfassungswidrig aufgehoben.

Entscheidungsgründe:

Der Beschwerdeführer, der mit dem angefochtenen, im Berufungswege ergangenen Bescheid der Übertretung nach § 2 des Versammlungsgesetzes, RGBI. Nr. 135/1867, schuldig erkannt worden ist, weil er als Vertreter der Wachtturmgesellschaft eine öffentliche Versammlung abgehalten hat, ohne sie bei der Behörde schriftlich angezeigt zu haben, fühlt sich hiedurch in den durch Art. 12 und Art. 13 StGG., RGBI. Nr. 142/1867, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten der Versammlungsfreiheit und der freien Meinungsäußerung verletzt. Er bestreitet den von der Behörde angenommenen Tatbestand nicht, er macht nur unrichtige rechtliche Beurteilung geltend, weil der von ihm veranstaltete Vortrag als Übung eines religiösen Bekenntnisses zu werten sei, die nach § 5 des Versammlungsgesetzes von den Bestimmungen dieses Gesetzes ausgenommen sei. Es habe daher einer vorhergehenden schriftlichen Anzeige an die Behörde nicht bedurft.

Der Verfassungsgerichtshof hat die Beschwerde aus folgenden Erwägungen für begründet gefunden:

Nach § 5 des Versammlungsgesetzes vom 15. November 1867, RGBI. Nr. 135, sind unter anderem Versammlungen oder Aufzüge zur Ausübung eines gesetzlich gestatteten Kultus, wenn sie in der hergebrachten Art stattfinden, von den Bestimmungen dieses Gesetzes ausgenommen. Diese Bestimmung hat insofern eine grundlegende Erweiterung erfahren, als gemäß Art. 63 Abs. 2 und Art. 67 des Staatsvertrages von St. Germain das Recht der öffentlichen Religionsübung heute nicht mehr bloß, wie dies Art. 15 StGG. bestimmt hatte, den Angehörigen der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zusteht, sondern daß alle Einwohner Österreichs berechtigt sind, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben, sofern deren Übung nicht mit der öffentlichen Ordnung oder mit den guten Sitten unvereinbar ist. Es sind daher heute auch Versammlungen von Anhängern gesetzlich nicht anerkannter Religionen, sofern sie der Übung eines religiösen Bekenntnisses dienen und „in der hergebrachten Art stattfinden”, von den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes ausgenommen.

Nun hat der Beschwerdeführer, der zu einer in einem Gasthaus stattfindenden „öffentlichen Ansprache” eines Vertreters der Wachtturmgesellschaft eingeladen hatte, bei seiner Vernehmung im Verwaltungsstrafverfahren ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich bei dieser „öffentlichen Ansprache” um eine Religionsausübung der Zeugen Jehovas gehandelt habe, die nicht unter die Bestimmungen des Versammlungsgesetzes falle. Daß die Abhaltung von Vorträgen religiösen Inhaltes einen sehr wesentlichen Bestandteil von Kultushandlungen, und damit der Übung von Glauben, Religion und Bekenntnis im Sinne des Art. 63 Abs. 2 des Staatsvertrages von St. Germain bilden kann, hat der Verfassungsgerichtshof in seinem Erk. Slg. Nr. 22002 ausgesprochen. Der Verfassungsgerichtshof hat dieser Feststellung aber gleichzeitig hinzugefügt, daß ein solcher Vortrag allein noch nicht genüge, um eine Versammlung als eine solche zur Übung eines religiösen Bekenntnisses erkennen zu lassen. Die Übung eines solchen Bekenntnisses setze darüber hinaus die Ausbildung eines, wenn auch zunächst primitiven Kultus voraus. Die Behörde hat es nun unterlassen, irgendwelche Erhebungen in der Richtung zu pflegen, ob die Behauptung des Beschwerdeführers, es habe sich — im Sinne des vorbezeichneten Erkenntnisses — um eine Religionsübung der Zeugen Jehovas gehandelt, der Wahrheit entsprochen hat, eine Unterlassung, die das Verfahren als mangelhaft erscheinen läßt. Nun steht vorliegenden Falles die Frage der richtigen Anwendung des Versammlungsgesetzes zur Entscheidung, eine Frage, die in die ausschließliche Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes fällt, weshalb der Verfassungsgerichtshof auch zur Wahrnehmung von Verfahrensmängeln berufen ist. Da sich der unterlaufene Mangel als wesentlich darstellt, weil die Behörde bei Durchführung entsprechender Erhebungen vielleicht zu einem anders lautenden Spruch hätte kommen können, war der angefochtene Bescheid wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Versammlungsrechtes aufzuheben.

VfGH 2002

Verletzung des Versammlungsrechtes und des Rechtes der Religionsübung. Wissenschaftliche Vorträge — Religionsübung

E. v. 27. September 1950, B 72/50.

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Tatbestand:

Der Beschwerdeführer Wilfried J. hat mit Eingabe vom 26. Juli 1948 bei der Polizeidirektion Wien sechs Vorträge angezeigt.

Die Polizeidirektion Wien hat die Abhaltung dieser Vorträge mit dem Bescheide vom 30. Juli 1948, unter Berufung auf § 6 des Gesetzes vom 15. November 1867, RGBI. Nr. 135, über das Versammlungsrecht untersagt. In der Begründung des Bescheides wird ausgeführt, daß die „Österreichischen Freunde der Gotteserkenntnis” bisher weder als Verein angemeldet, noch als religiöse Sekte beim Bundesministerium für Unterricht registriert seien. Wenn sie auch von dem früher in Österreich bis zu seiner im Jahre 1936 erfolgten behördlichen Auflösung bestandenen Tannenbergbunde und der sogenannten Ludendorffbewegung insofern abweichen, als sie sich lediglich auf den philosophischen Gehalt der Lehren von Erich und Mathilde Ludendorff konzentrieren wollen, so seien doch Veranstaltungen zur Propagierung dieser Gotteserkenntnis geeignet, die öffentliche Sicherheit und das öffentliche Wohl zu gefährden. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung des Beschwerdeführers hat das Bundesministerium für Inneres (Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit) mit dem Bescheide vom 4. März 1950 nicht Folge gegeben.

Entscheidungsgründe :

In der mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof hat Beschwerdeführer die Gründe für seine Beschwerde dahin präzisiert, daß er durch den angefochtenen Bescheid einerseits in dem ihm durch Art. 63 des Staatsvertrages von Saint-Germain verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte der freien Religionsübung und anderseits in dem ihm durch Art. 12 StGG. über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte der Versammlungsfreiheit verletzt worden sei.

Was zunächst die Berufung auf Art. 63 des Staatsvertrages von Saint-Germain betrifft, erscheint sie schon deshalb als verfehlt, weil die vom Beschwerdeführer beabsichtigt gewesenen Vorträge nicht als „Religionsübung” im Sinne der bezogenen Bestimmung angesehen werden können. Art. 63 Abs. 2 des Staatsvertrages hat allen Einwohnern Österreichs das Recht eingeräumt, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis zu üben, sofern deren Übung nicht mit der öffentlichen Ordnung oder mit den guten Sitten unvereinbar ist. Diese Bestimmung, die insofern eine bedeutsame Änderung der Art. 15 und 16 StGG. über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger gebracht hat, als seither den Anhängern eines gesetzlich nicht anerkannten Bekenntnisses nicht mehr wie ehedem bloß die häusliche, sondern auch die öffentliche Religionsübung gewährleistet ist, ist durch Art. 149 B.-VG. unter den unmittelbaren Schutz der Verfassung gestellt. Geschützt ist aber dadurch lediglich die Übung eines bestimmten Glaubens oder Bekenntnisses. Die Übung eines religiösen Bekenntnisses setzt aber voraus, daß sich bereits irgend ein, wenn auch zunächst noch primitiver Kultus, eine bestimmte Form der gemeinsamen religiösen Erhebung und der gleichartigen religiösen Betätigung unter den Glaubensgenossen herausgebildet hat, mag diese Form durch eine Anordnung der hiezu berufenen religiösen Oberen oder allmählich durch Sitte und Brauch gestaltet worden sein. Die Abhaltung von Vorträgen religiösen Inhaltes kann sicherlich einen sehr wesentlichen Bestandteil dieser Kultushandlungen und damit der Übung von Glauben, Religion oder Bekenntnis im Sinne des Art. 63 Abs. 2 des Staatsvertrages von Saint-Germain bilden. Die Abhaltung eines wissenschaftlichen Vortrages allein — und Beschwerdeführer bezeichnet selbst die von ihm in Aussicht genommenen Vorträge als solche wissenschaftlichen Charakters — im Rahmen einer allgemein zugänglichen Versammlung kann jedoch, auch wenn im Vortrag ein religionswissenschaftliches Thema behandelt wird, als Religionsübung auf keinen Fall gewertet werden.

Soweit Beschwerdeführer die Verletzung des durch Art. 63 Abs. 2 des Staatsvertrages von Saint-Germain verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes behauptet, war daher die Beschwerde schon aus dem Grunde als unbegründet abzuweisen, weil der angefochtene Bescheid in die Übung eines Religionsbekenntnisses überhaupt nicht eingegriffen hat.

Sofern die Beschwerde eine Verletzung des verfassungsgesetzlich geschützten Rechtes der Versammlungsfreiheit geltend macht, wird ihr von der belangten Behörde entgegengehalten, daß unmittelbar nur eine Verletzung des Versammlungsgesetzes RGBl. Nr. 135/1867 in Frage komme, daß dieses Gesetz kein Verfassungsgesetz sei und daher seine unrichtige Anwendung durch die belangte Behörde nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes keine Verfassungswidrigkeit darstellen könne. Nur ein gesetzloser Eingriff wäre verfassungswidrig. Mit diesen ihren Ausführungen übersieht jedoch die belangte Behörde, daß das Recht der Versammlungsfreiheit den österreichischen Staatsbürgern durch Art. 12 des StGG. vom 21. Dezember 1867 RGBI. Nr. 142 unmittelbar gewährleistet ist, das nach Art. 149 B.-VG. einen Bestandteil der Bundesverfassung bildet, und daß dieses verfassungsgesetzlich geschützte Recht durch das Gesetz vom 15. November 1867, RGBI. Nr. 135 (in der Fassung des Gesetzes vom 5. November 1947, BGBl. Nr. 252), nur seine nähere Ausführung erhalten hat. Jede Verletzung des Versammlungsgesetzes, die in die Versammlungsfreiheit eingreift, insbesondere eine Untersagung, die durch § 6 des Versammlungsgesetzes nicht gedeckt ist, bedeutet daher           ebenso wie eine Verletzung des Vereinsgesetzes 1867 im Bereich des Vereinsrechtes — einen unmittelbaren Eingriff in das durch Art. 12 StGG. geschützte Grundrecht und stellt sich somit als eine Verfassungswidrigkeit dar. Dem Einwand der belangten Behörde, der in der Behauptung gipfelt, daß zur Entscheidung über die Beschwerde nicht der Verfassungsgerichtshof, sondern der Verwaltungsgerichtshof zuständig sei, war daher nicht Folge zu geben.

In sachlicher Hinsicht fehlt aber der Beschwerde die Berechtigung. Art. 12 StGG. legt den Grundsatz der Versammlungsfreiheit fest. In Wahrung dieses Grundsatzes legt § 2 des Gesetzes über das Versammlungsrecht demjenigen, der eine allgemein zugängliche Versammlung ohne Beschränkung auf geladene Gäste veranstalten will, lediglich die formale Verpflichtung auf, dies mindestens drei Tage vor der Abhaltung unter Angabe des Zweckes, des Ortes und der Zeit der Versammlung der Behörde anzuzeigen. (Von den Beschränkungen, die im § 3 dieses Gesetzes für Versammlungen unter freiem Himmel gelten, und von einer Erörterung der Frage, ob diese Beschränkungen im Hinblick auf den Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918, StGBI. Nr. 3, noch aufrecht sind, kann abgesehen werden, weil es sich in dem der Beschwerde zugrundeliegenden Falle nicht um eine Versammlung unter freiem Himmel handelt.) Versammlungen aber, deren Zweck den Strafgesetzen zuwiderläuft oder deren Abhaltung die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährdet, sind gemäß § 6 des Versammlungsgesetzes von der Behörde zu untersagen.

Der angefochtene Bescheid hat das Verbot der Vorträge des Beschwerdeführers damit begründet, daß ihre Abhaltung geeignet wäre, die öffentliche Sicherheit und das öffentliche Wohl zu gefährden, der Beschwerdeführer stellt die Möglichkeit einer solchen Gefährdung in Abrede. Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes war es somit, die angefochtene Entscheidung nach dieser Richtung hin zu prüfen.

Der Verfassungsgerichtshof sah sich aus folgenden Erwägungen veranlaßt, der Rechtsansicht der belangten Behörde beizutreten: Es ist wohl richtig, daß sich die „Österreichischen Freunde der Gotteserkenntnis (L)” als religiöse Gemeinschaft bezeichnen und in ihren Richtlinien eine politische Betätigung geradezu ablehnen. Allein die von der belangten Behörde hervorgehobenen Aufsätze der Dr. Mathilde Ludendorff im Sonderheft 1 der Zeitschrift für Religion, Kultur und Wissenschaft „Das Kulturwort”, das als Herausgeber die „Österreichischen Freunde der Gotteserkenntnis (L)” ausweist und daher als Sprachrohr dieser Gemeinschaft gelten muß, flechten in deren Weltbild unleugbar Gedankengänge politischer Natur ein. Diese Gedankengänge sind, wie schon das Bestreben, eine „Religion der Deutschen” zu schaffen, zeigt, nationalistisch verengt, sie suchen darüber hinaus durch die Forderung, diese „Religion der Deutschen” mit den rassischen und völkischen Wurzeln des deutschen Volkes in Einklang zu bringen, und durch den Kampf gegen die „jüdischen” Konfessionen — worunter nicht nur der mosaische Glaube, sondern auch das Christentum und der Islam gemeint sind — eine Ideologie zu verbreiten, die den Grundpfeiler des Nationalsozialismus gebildet hat oder diesem mindestens nahe verwandt ist. Überhaupt gerät die Lehre dadurch, daß sie ihre besondere Sorge dem deutschen Volke angedeihen läßt und der Befürchtung Ausdruck gibt, „es möchte den Volksfeinden, den überstaatlichen Mächten, es möchte den christlichen Priestern beider Konfessionen, den Juden und Okkulten gelingen, durch Hetze und Verleumdung das deutsche Volk daran zu hindern, diese Hilfe anzunehmen und es könnten anderen Blutes sein, die sie auswerten und daran erstarken . . . “, vom religiösen Gebiet in das ausschließlich politische. Auch hier aber sind es zweifellos Gedankengänge, des Nationalsozialismus, zu denen die Lehre sichtbar hinführt oder doch hinführen kann.

Bei dieser Lage ist es nicht entscheidend, ob der Beschwerdeführer und seine in den „Österreichischen Freunden der Gotteserkenntnis (L)” vereinigten Gesinnungsfreunde tatsächlich die Absicht haben, Gedankengut des Nationalsozialismus wieder zu beleben. Wenn eine Geistesrichtung objektiv dazu geeignet ist, dem Nationalsozialismus neuerlich Leben zu geben, dann ist sie schon dadurch imstande, das öffentliche Wohl zu gefährden. Auch ändert daran der Umstand nichts, daß die von der belangten Behörde zitierten literarischen Äußerungen der Dr. Mathilde Ludendorff, aus dem inneren Zusammenhang der einzelnen Abhandlungen losgelöst, leicht mißdeutet werden können. Denn es ist Erfahrungstatsache, daß gerade jene Zuhörer, die für eine Geistesrichtung erst gewonnen werden sollen, an die sich also Werbevorträge in erster Linie richten, leicht geneigt sind, einzelne Gedanken isoliert im Gedächtnis zu behalten und nach ihrer persönlichen Veranlagung und Einstellung zu verarbeiten.

Auch wenn man daher im Interesse der demokratischen Weiterentwicklung des österreichischen Staates der Sicherung der staatsbürgerlichen Grundrechte jene große Bedeutung beimißt, die ihr zukommt — und der Verfassungsgerichtshof erblickt in der Wahrung und Sicherung dieser Grundrechte eine seiner Hauptaufgaben — so darf doch anderseits nicht verkannt werden, daß gerade die Republik Österreich. durch die labile weltpolitische Lage in ihrer ruhigen Entwicklung dauernd empfindlich gefährdet erscheint, und daß unter den gegebenen Verhältnissen jede Beunruhigung daher schwerer wiegende Folgen nach sich ziehen kann, als dies in normalen Zeiten der Fall wäre. Die belangte Behörde, der der Inhalt der Vorträge nicht bekannt war und auch nicht bekanntgegeben werden mußte, weil kein Gesetz eine Verpflichtung dazu festlegt, konnte ihre Entscheidung nur nach dem Material fällen, das ihr in den literarischen Äußerungen der Dr. Mathilde Ludendorff und ihrer Anhänger vorlag. Nach diesem ihr vorliegenden Material konnte aber die belangte Behörde mit Recht zu der Ansicht gelangen, daß die Abhaltung der Vorträge durch Stärkung nationalsozialistischer Bestrebungen und Gedankengänge — mag das auch vom Beschwerdeführer selbst nicht beabsichtigt gewesen sein — geeignet wäre, die öffentliche Sicherheit und das öffentliche Wohl zu gefährden.

Wenn daher die belangte Behörde bei dieser Sachlage mit dem angefochtenen Bescheid die vom Beschwerdeführer angezeigten Vorträge untersagt hat, so wurde damit, weil § 6 des Gesetzes über das Versammlungsrecht diese Entscheidung vollauf rechtfertigt, das im Art. 12 des StGG. gewährleistete Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde war darum als unbegründet abzuweisen.