VfGH 2002

Verletzung des Versammlungsrechtes und des Rechtes der Religionsübung. Wissenschaftliche Vorträge — Religionsübung

E. v. 27. September 1950, B 72/50.

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Tatbestand:

Der Beschwerdeführer Wilfried J. hat mit Eingabe vom 26. Juli 1948 bei der Polizeidirektion Wien sechs Vorträge angezeigt.

Die Polizeidirektion Wien hat die Abhaltung dieser Vorträge mit dem Bescheide vom 30. Juli 1948, unter Berufung auf § 6 des Gesetzes vom 15. November 1867, RGBI. Nr. 135, über das Versammlungsrecht untersagt. In der Begründung des Bescheides wird ausgeführt, daß die „Österreichischen Freunde der Gotteserkenntnis” bisher weder als Verein angemeldet, noch als religiöse Sekte beim Bundesministerium für Unterricht registriert seien. Wenn sie auch von dem früher in Österreich bis zu seiner im Jahre 1936 erfolgten behördlichen Auflösung bestandenen Tannenbergbunde und der sogenannten Ludendorffbewegung insofern abweichen, als sie sich lediglich auf den philosophischen Gehalt der Lehren von Erich und Mathilde Ludendorff konzentrieren wollen, so seien doch Veranstaltungen zur Propagierung dieser Gotteserkenntnis geeignet, die öffentliche Sicherheit und das öffentliche Wohl zu gefährden. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung des Beschwerdeführers hat das Bundesministerium für Inneres (Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit) mit dem Bescheide vom 4. März 1950 nicht Folge gegeben.

Entscheidungsgründe :

In der mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof hat Beschwerdeführer die Gründe für seine Beschwerde dahin präzisiert, daß er durch den angefochtenen Bescheid einerseits in dem ihm durch Art. 63 des Staatsvertrages von Saint-Germain verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte der freien Religionsübung und anderseits in dem ihm durch Art. 12 StGG. über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte der Versammlungsfreiheit verletzt worden sei.

Was zunächst die Berufung auf Art. 63 des Staatsvertrages von Saint-Germain betrifft, erscheint sie schon deshalb als verfehlt, weil die vom Beschwerdeführer beabsichtigt gewesenen Vorträge nicht als „Religionsübung” im Sinne der bezogenen Bestimmung angesehen werden können. Art. 63 Abs. 2 des Staatsvertrages hat allen Einwohnern Österreichs das Recht eingeräumt, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis zu üben, sofern deren Übung nicht mit der öffentlichen Ordnung oder mit den guten Sitten unvereinbar ist. Diese Bestimmung, die insofern eine bedeutsame Änderung der Art. 15 und 16 StGG. über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger gebracht hat, als seither den Anhängern eines gesetzlich nicht anerkannten Bekenntnisses nicht mehr wie ehedem bloß die häusliche, sondern auch die öffentliche Religionsübung gewährleistet ist, ist durch Art. 149 B.-VG. unter den unmittelbaren Schutz der Verfassung gestellt. Geschützt ist aber dadurch lediglich die Übung eines bestimmten Glaubens oder Bekenntnisses. Die Übung eines religiösen Bekenntnisses setzt aber voraus, daß sich bereits irgend ein, wenn auch zunächst noch primitiver Kultus, eine bestimmte Form der gemeinsamen religiösen Erhebung und der gleichartigen religiösen Betätigung unter den Glaubensgenossen herausgebildet hat, mag diese Form durch eine Anordnung der hiezu berufenen religiösen Oberen oder allmählich durch Sitte und Brauch gestaltet worden sein. Die Abhaltung von Vorträgen religiösen Inhaltes kann sicherlich einen sehr wesentlichen Bestandteil dieser Kultushandlungen und damit der Übung von Glauben, Religion oder Bekenntnis im Sinne des Art. 63 Abs. 2 des Staatsvertrages von Saint-Germain bilden. Die Abhaltung eines wissenschaftlichen Vortrages allein — und Beschwerdeführer bezeichnet selbst die von ihm in Aussicht genommenen Vorträge als solche wissenschaftlichen Charakters — im Rahmen einer allgemein zugänglichen Versammlung kann jedoch, auch wenn im Vortrag ein religionswissenschaftliches Thema behandelt wird, als Religionsübung auf keinen Fall gewertet werden.

Soweit Beschwerdeführer die Verletzung des durch Art. 63 Abs. 2 des Staatsvertrages von Saint-Germain verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes behauptet, war daher die Beschwerde schon aus dem Grunde als unbegründet abzuweisen, weil der angefochtene Bescheid in die Übung eines Religionsbekenntnisses überhaupt nicht eingegriffen hat.

Sofern die Beschwerde eine Verletzung des verfassungsgesetzlich geschützten Rechtes der Versammlungsfreiheit geltend macht, wird ihr von der belangten Behörde entgegengehalten, daß unmittelbar nur eine Verletzung des Versammlungsgesetzes RGBl. Nr. 135/1867 in Frage komme, daß dieses Gesetz kein Verfassungsgesetz sei und daher seine unrichtige Anwendung durch die belangte Behörde nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes keine Verfassungswidrigkeit darstellen könne. Nur ein gesetzloser Eingriff wäre verfassungswidrig. Mit diesen ihren Ausführungen übersieht jedoch die belangte Behörde, daß das Recht der Versammlungsfreiheit den österreichischen Staatsbürgern durch Art. 12 des StGG. vom 21. Dezember 1867 RGBI. Nr. 142 unmittelbar gewährleistet ist, das nach Art. 149 B.-VG. einen Bestandteil der Bundesverfassung bildet, und daß dieses verfassungsgesetzlich geschützte Recht durch das Gesetz vom 15. November 1867, RGBI. Nr. 135 (in der Fassung des Gesetzes vom 5. November 1947, BGBl. Nr. 252), nur seine nähere Ausführung erhalten hat. Jede Verletzung des Versammlungsgesetzes, die in die Versammlungsfreiheit eingreift, insbesondere eine Untersagung, die durch § 6 des Versammlungsgesetzes nicht gedeckt ist, bedeutet daher           ebenso wie eine Verletzung des Vereinsgesetzes 1867 im Bereich des Vereinsrechtes — einen unmittelbaren Eingriff in das durch Art. 12 StGG. geschützte Grundrecht und stellt sich somit als eine Verfassungswidrigkeit dar. Dem Einwand der belangten Behörde, der in der Behauptung gipfelt, daß zur Entscheidung über die Beschwerde nicht der Verfassungsgerichtshof, sondern der Verwaltungsgerichtshof zuständig sei, war daher nicht Folge zu geben.

In sachlicher Hinsicht fehlt aber der Beschwerde die Berechtigung. Art. 12 StGG. legt den Grundsatz der Versammlungsfreiheit fest. In Wahrung dieses Grundsatzes legt § 2 des Gesetzes über das Versammlungsrecht demjenigen, der eine allgemein zugängliche Versammlung ohne Beschränkung auf geladene Gäste veranstalten will, lediglich die formale Verpflichtung auf, dies mindestens drei Tage vor der Abhaltung unter Angabe des Zweckes, des Ortes und der Zeit der Versammlung der Behörde anzuzeigen. (Von den Beschränkungen, die im § 3 dieses Gesetzes für Versammlungen unter freiem Himmel gelten, und von einer Erörterung der Frage, ob diese Beschränkungen im Hinblick auf den Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918, StGBI. Nr. 3, noch aufrecht sind, kann abgesehen werden, weil es sich in dem der Beschwerde zugrundeliegenden Falle nicht um eine Versammlung unter freiem Himmel handelt.) Versammlungen aber, deren Zweck den Strafgesetzen zuwiderläuft oder deren Abhaltung die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährdet, sind gemäß § 6 des Versammlungsgesetzes von der Behörde zu untersagen.

Der angefochtene Bescheid hat das Verbot der Vorträge des Beschwerdeführers damit begründet, daß ihre Abhaltung geeignet wäre, die öffentliche Sicherheit und das öffentliche Wohl zu gefährden, der Beschwerdeführer stellt die Möglichkeit einer solchen Gefährdung in Abrede. Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes war es somit, die angefochtene Entscheidung nach dieser Richtung hin zu prüfen.

Der Verfassungsgerichtshof sah sich aus folgenden Erwägungen veranlaßt, der Rechtsansicht der belangten Behörde beizutreten: Es ist wohl richtig, daß sich die „Österreichischen Freunde der Gotteserkenntnis (L)” als religiöse Gemeinschaft bezeichnen und in ihren Richtlinien eine politische Betätigung geradezu ablehnen. Allein die von der belangten Behörde hervorgehobenen Aufsätze der Dr. Mathilde Ludendorff im Sonderheft 1 der Zeitschrift für Religion, Kultur und Wissenschaft „Das Kulturwort”, das als Herausgeber die „Österreichischen Freunde der Gotteserkenntnis (L)” ausweist und daher als Sprachrohr dieser Gemeinschaft gelten muß, flechten in deren Weltbild unleugbar Gedankengänge politischer Natur ein. Diese Gedankengänge sind, wie schon das Bestreben, eine „Religion der Deutschen” zu schaffen, zeigt, nationalistisch verengt, sie suchen darüber hinaus durch die Forderung, diese „Religion der Deutschen” mit den rassischen und völkischen Wurzeln des deutschen Volkes in Einklang zu bringen, und durch den Kampf gegen die „jüdischen” Konfessionen — worunter nicht nur der mosaische Glaube, sondern auch das Christentum und der Islam gemeint sind — eine Ideologie zu verbreiten, die den Grundpfeiler des Nationalsozialismus gebildet hat oder diesem mindestens nahe verwandt ist. Überhaupt gerät die Lehre dadurch, daß sie ihre besondere Sorge dem deutschen Volke angedeihen läßt und der Befürchtung Ausdruck gibt, „es möchte den Volksfeinden, den überstaatlichen Mächten, es möchte den christlichen Priestern beider Konfessionen, den Juden und Okkulten gelingen, durch Hetze und Verleumdung das deutsche Volk daran zu hindern, diese Hilfe anzunehmen und es könnten anderen Blutes sein, die sie auswerten und daran erstarken . . . “, vom religiösen Gebiet in das ausschließlich politische. Auch hier aber sind es zweifellos Gedankengänge, des Nationalsozialismus, zu denen die Lehre sichtbar hinführt oder doch hinführen kann.

Bei dieser Lage ist es nicht entscheidend, ob der Beschwerdeführer und seine in den „Österreichischen Freunden der Gotteserkenntnis (L)” vereinigten Gesinnungsfreunde tatsächlich die Absicht haben, Gedankengut des Nationalsozialismus wieder zu beleben. Wenn eine Geistesrichtung objektiv dazu geeignet ist, dem Nationalsozialismus neuerlich Leben zu geben, dann ist sie schon dadurch imstande, das öffentliche Wohl zu gefährden. Auch ändert daran der Umstand nichts, daß die von der belangten Behörde zitierten literarischen Äußerungen der Dr. Mathilde Ludendorff, aus dem inneren Zusammenhang der einzelnen Abhandlungen losgelöst, leicht mißdeutet werden können. Denn es ist Erfahrungstatsache, daß gerade jene Zuhörer, die für eine Geistesrichtung erst gewonnen werden sollen, an die sich also Werbevorträge in erster Linie richten, leicht geneigt sind, einzelne Gedanken isoliert im Gedächtnis zu behalten und nach ihrer persönlichen Veranlagung und Einstellung zu verarbeiten.

Auch wenn man daher im Interesse der demokratischen Weiterentwicklung des österreichischen Staates der Sicherung der staatsbürgerlichen Grundrechte jene große Bedeutung beimißt, die ihr zukommt — und der Verfassungsgerichtshof erblickt in der Wahrung und Sicherung dieser Grundrechte eine seiner Hauptaufgaben — so darf doch anderseits nicht verkannt werden, daß gerade die Republik Österreich. durch die labile weltpolitische Lage in ihrer ruhigen Entwicklung dauernd empfindlich gefährdet erscheint, und daß unter den gegebenen Verhältnissen jede Beunruhigung daher schwerer wiegende Folgen nach sich ziehen kann, als dies in normalen Zeiten der Fall wäre. Die belangte Behörde, der der Inhalt der Vorträge nicht bekannt war und auch nicht bekanntgegeben werden mußte, weil kein Gesetz eine Verpflichtung dazu festlegt, konnte ihre Entscheidung nur nach dem Material fällen, das ihr in den literarischen Äußerungen der Dr. Mathilde Ludendorff und ihrer Anhänger vorlag. Nach diesem ihr vorliegenden Material konnte aber die belangte Behörde mit Recht zu der Ansicht gelangen, daß die Abhaltung der Vorträge durch Stärkung nationalsozialistischer Bestrebungen und Gedankengänge — mag das auch vom Beschwerdeführer selbst nicht beabsichtigt gewesen sein — geeignet wäre, die öffentliche Sicherheit und das öffentliche Wohl zu gefährden.

Wenn daher die belangte Behörde bei dieser Sachlage mit dem angefochtenen Bescheid die vom Beschwerdeführer angezeigten Vorträge untersagt hat, so wurde damit, weil § 6 des Gesetzes über das Versammlungsrecht diese Entscheidung vollauf rechtfertigt, das im Art. 12 des StGG. gewährleistete Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde war darum als unbegründet abzuweisen.