VfGH 2944

Verfassungswidrigkeit des § 67 des Personenstandsgesetzes. Weitergeltung von Rechtsvorschriften auf Grund des vermuteten Willens des Gesetzgebers. Verstoß gegen das Recht der gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften, ihre inneren Angelegenheiten selbständig zu ordnen. Eheschließung als innerkirchliche Angelegenheit. Verstoß gegen das Recht der öffentlichen Religionsübung. Zum Begriff der „öffentlichen Ordnung”.

Erk. v. 19. Dezember 1955, G 9, 17/55.

§ 67 des Personenstandsgesetzes vom 3. November 1937, RGBI. I S. 1146, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Sachverhalt:

Die Vorarlberger Landesregierung und — gesondert von ihr  — die Tiroler Landesregierung haben unter Berufung auf Art. 140 B. -VG. beim Verfassungsgerichtshof den Antrag gestellt, den § 67 des Personenstandsgesetzes vom 3. November 1947, BGBl. 1 S. 1146, in der Fassung des § 6 des Staatsgesetzes vom 26. Juni 1945, StGB1. Nr. 31, als verfassungswidrig aufzuheben. Die angefochtene Bestimmung, die durch Verordnung vom 2. Juli 1938, DRGBI. I S. 803 (Gesetzblatt” für das Land Österreich Nr. 287/1938), mit Wirkung vom 1. Jänner 1939 in Österreich eingeführt wurde, hat folgenden Wortlaut:

„(1) Wer die religiösen Feierlichkeiten einer Eheschließung vornimmt, bevor die Ehe vor dem Standesamt geschlossen ist, wird mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bestraft.

,(2) eine Bestrafung tritt nicht ein, wenn einer der Verlobten lebensgefährlich erkrankt und ein Aufschub nicht möglich ist.”

Entscheidungsgründe:

1. Der Verfassungsgerichtshof hatte zunächst die Frage zu beantworten, ob § 67 Personenstandsgesetz (PersStG.) überhaupt Bestandteil der wiederhergestellten österreichischen Rechtsordnung ist, da verneinenden Falles der Antrag der beiden Landesregierungen als unzulässig zurückgewiesen werden müßte.

Das Personenstandsgesetz hat die Grundgedanken des Gesetzes. über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung vom 6. Feber 1875, DRGBL. S. 23, übernommen, das in seinem § 67 bereits eine dem § 67 des neuen Personenstandsgesetzes im wesentlichen gleiche Bestimmung enthielt. Das ältere Gesetz spricht ausdrücklich von „Geistlichen oder anderen Religionsdienern”, die zu den religiösen Feierlichkeiten einer Eheschließung schreiten, ehe ihnen nachgewiesen worden ist, daß die Ehe vor dem Standesbeamten geschlossen ist. Demgegenüber lautet § 67 des neuen PersStG. wörtlich :

„(1) Wer die religiösen Feierlichkeiten einer Eheschließung vornimmt, bevor die Ehe vor dem Standesbeamten geschlossen ist, wird mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bestraft.

(2) Eine Bestrafung tritt nicht ein, wenn einer der Verlobten lebensgefährlich erkrankt und ein Aufschub nicht möglich ist.”

§ 67 PersStG. hat daher seinen Ursprung nicht im Gedankengut des Nationalsozialismus, sondern zieht nur die Folge aus der im Jahre 1875 erfolgten Einführung der obligatorischen Zivilehe im Deutschen Reich. Er ist — wie seinerzeit (1875) — dazu bestimmt, die Durchsetzung der obligatorischen Zivilehe und die Anerkennung der alleinigen Wirksamkeit der staatlichen Eheschließung gegenüber einer anderen Auffassung einer Kirche oder Religionsgesellschaft zu sichern. Offenbar spielte auch die Absicht des Gesetzgebers mit, zu verhüten, daß vor der staatlichen Eheschließung kirchliche Trauungsurkunden ausgestellt werden, die insbesondere im Ausland, aber auch im Inland, mißverständlich den Bestand einer staatlichen Ehe annehmen lassen. Da demnach § 67 PersStG. kein typisch nationalsozialistisches Gedankengut enthält und auch keine der sonstigen Gründe vorgelegen sind, die allein schon nach § 1 des Verfassungsgesetzes vom 1. Mai 1945, StGBl. Nr. 6, über die Wiederherstellung des Rechtslebens in Österreich (Rechts-Überleitungsgesetz) eine Aufhebung ex lege (vgl. Verfassungsgerichtshof Slg. Nr. 2620) bewirkt hätten, ist diese Bestimmung zufolge § 2 dieses Verfassungsgesetzes zunächst als österreichische Rechtsvorschrift in vorläufige Geltung gesetzt worden.

Nun ist aber am gleichen Tage wie das Rechts-Überleitungsgesetz, nämlich am 1. Mai 1945, das Verfassungsgesetz über das neuerliche Wirksamwerden des Bundes-Verfassungsgesetzes i. d. F. von 1929, StGBI. Nr. 4, beschlossen und kundgemacht worden. Damit wurden alle jene im Art. 149 des B.-VG. i. d. F. von 1929 zu Bestandteilen dieses Verfassungsgesetzes erhobenen Gesetze, u. a. das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867, RGBI. Nr. 142, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (darunter Art. 15) sowie der Abschnitt V des III. Teiles des Staasvertrages von Saint Germain vom 10. September 1919, StGBI. Nr. 303 (darunter Art. 63), in Kraft gesetzt. § 4 des Rechts-Überleitungsgesetzes bestimmt, daß alle durch § 2 dieses Verfassungsgesetzes übernommenen ehemaligen reichsdeutschen Vorschriften rückwirkend mit 10. April 1945 als österreichische Rechtsvorschriften vorläufig in Geltung gesetzt werden. Aus dieser Tatsache zieht der Verfassungsgerichtshof den Schluß, daß der Verfassungsgesetzgeber diesen Akt der Rezeption der einfachen Gesetze zeitlich vor das Wirksamwerden des B.-VG. i. d. F. von 1929 gesetzt wissen wollte. Da § 67 PersStG. auf diese Weise mit 10. April 1945, u. zw. als einfaches Staats(Bundes)gesetz Bestandteil der österreichischen Rechtsordnung geworden war, stellt sich das am 1. Mai 1.945 wieder in Kraft getretene B.-VG. i. d. F. von 1929 als das spätere (übrigens auch als das auf höherer Stufe stehende) Gesetz dar. Selbst wenn aber hiedurch dem § 67 PersStG. derogiert worden sein sollte und daher diese Bestimmung seit 1. Mai 1945 zunächst nicht mehr Bestandteil der österreichischen Rechtsordnung gewesen wäre, muß doch der Ansicht der antragstellenden Landesregierung beigepflichtet werden, daß sie nach dem 1. Mai 1945 wieder eingeführt worden ist.

Die Provisorische Staatsregierung, der damals zufolge der Vorläufigen Verfassung 1945 das ausschließliche Gesetzgebungsrecht  zustand, beschloß nämlich am 26. Juni 1945 das Staatsgesetz über Maßnahmen auf dem Gebiete des Eherechtes, des Personenstands-rechtes und des Erbgesundheitsrechtes, das im Staatsgesetzblatt unter der Nummer 31 am 28. Juni 1945 kundgemacht wurde. Dieses (einfache) Staatsgesetz zählte nun in seinem Abschnitt I Pkt. 2 eine Reihe von Bestimmungen aus dem Personenstandsgesetz und aus der Ersten, der Zweiten und der Vierten Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes auf. Diese wurden aufgehoben.

Unter all diesen im einzelnen zitierten und als aufgehoben erklärten Bestimmungen befindet sich jedoch nicht der § 67 PersStG. Dagegen findet sich im Abschnitt II dieses Gesetzes unter § 6 folgende Bestimmung:

„Wegen Vornahme einer kirchlichen Eheschließung vor Abschluß einer standesamtlichen Ehe in der Zeit vom 1. April 1945 bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes findet eine Bestrafung gemäß § 67 des Personenstandsgesetzes vom 3. November 1937, DRGBI. I S. 1146 (GBI. f. d. Land Österreich Nr. 287/1938), nicht statt.”

Der Verfassungsgerichtshof zog aus diesem Verhalten des einfachen Gesetzgebers den Schluß, daß dieser den § 67 des PersStG. als geltendes Recht behandelt wissen wollte und ihn, wenn auch nicht expressis verbis, wieder eingeführt hat. (Ähnlich die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes Slg. Nr. 2683, 2778 sowie vom 9. Dezember 1955, Slg. Nr. 2909 und vom 13. Dezember 1955, Slg. Nr. 2919) Der Verfassungsgerichtshof kam daher zu dem Ergebnis, daß § 67 des PersStG. Bestandteil des geltenden Rechtes ist.

Die Entscheidung in der Sache selbst erfordert zunächst die Lösung der Frage, ob § 67 PersStG. verfassungswidrig ist oder nicht. Als Verfassungsbestimmungen, mit denen der angefochtene § 67 des PersStG. in Widerspruch stehen kann, kommen nach ihrem Inhalt vor allem zwei Bestimmungen in Betracht, nämlich Art. 15 StGG., wonach den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, der Ordnung und selbständigen Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten unter Unterwerfung unter die allgemeinen Staatsgesetze zusteht und Art. 63 Satz 2 des Staatsvertrages von Saint Germain, der allen Einwohnern Österreichs das Recht gewährleistet, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben, sofern deren Übung nicht mit der öffentlichen Ordnung oder den guten Sitten unvereinbar ist.

Was nun Art. 15 StGG. betrifft, so ist daran kein Zweifel möglich, daß die religiösen Feierlichkeiten der Eheschließung aller gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, von unbeachtlichen Einzelfällen abgesehen, einen Akt gemeinsamer öffentlicher Religionsübung dieser Religionsgemeinschaften darstellen. § 67 PersStG. stellt aber eine Einschränkung dieses den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften eingeräumten Rechtes der freien Religionsübung dar.

Darüber hinaus  ist noch zu beachten, daß seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Vereinheitlichung des Rechtes der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiete vom 6. Juli 1938, DRGBI. 1 S. 807, am 1. August 1938 eine für den staatlichen Rechtsbereich gültige Ehe nur zustande kommt, wenn die Eheschließung vor einem Standesbeamten stattgefunden oder von einer Person, die, ohne Standesbeamter zu sein, das Amt eines Standesbeamten öffentlich ausübt und die Ehe in das Familienbuch eingetragen hat. Daraus ergibt sich, daß die Eheschließung vor einem Organ einer Religionsgemeinschaft lediglich die Bedeutung eines Vorganges im religiösen Bereich hat, dem keinerlei Wirkung für den staatlichen Rechtsbereich zukommt. Dieser Vorgang gehört demnach dem Bereiche der inneren Angelegenheiten der betreffenden gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft an. Art. 15 des StGG. hat jedoch den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften verfassungsmäßig das Recht gewährleistet, ihre inneren   Angelegenheiten selbst zu ordnen und zu verwalten. Die Vornahme religiöser Feierlichkeiten und insbesondere die Bestimmung ihres Zeitpunktes gehört nun in den Bereich der selbständigen Ordnung und Verwaltung der inneren Angelegenheiten einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft. Auch in dieser Hinsicht schränkt § 67 des PersStG. dieses verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht ein.

Das den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften durch Art. 15 StGG. verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung und der Ordnung und selbständigen Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten darf jedoch nicht durch ein einfaches Gesetz beschränkt werden. Daran ändert auch der Vorbehalt in Art. 15 StGG., daß sie „wie jede Gesellschaft den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen sind”, nichts, denn er erlaubt eine Beschränkung durch einfaches Bundesgesetz nur unter der Voraussetzung, daß damit jede Gesellschaft im Staate getroffen wird. Daß § 67 PersStG. sich nicht gegen alle Gesellschaften richtet, bedarf keiner weiteren Begründung.

§ 67 PersStG. ist somit in Ansehung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften (Art. 15 StGG.) verfassungswidrig.

Die Rechtslage auf dem Gebiete der religiösen Freiheiten hat nun durch Art. 63 des Staatsvertrages von Saint Germain eine Erweiterung erfahren; seither steht nämlich allen Einwohnern Österreichs ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht zu, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Bekenntnis oder Religion frei zu üben, sofern deren Übung nicht mit der öffentlichen Ordnung und mit den guten Sitten unvereinbar ist. Die Vornahme der religiösen Feierlichkeiten einer Eheschließung durch einen Religionsdiener ist eine Übung des betreffenden Glaubens (der Religion ‘ oder des Bekenntnisses) ebenso wie die Teilnahme der Ehewerber an dieser Feierlichkeit. Ihre freie Übung steht deshalb auch unter dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Schutz des Art. 63 des Staatsvertrages von Saint Germain und lassen § 67 des PersStG. auch in dieser Hinsicht verfassungswidrig erscheinen, sofern nicht etwa dieser Religionsübung die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten entgegenstehen.

Der Verfassungsgerichtshof ist nun nicht der Meinung, daß der Begriff „öffentliche Ordnung” der Rechtsordnung schlechthin gleichzustellen ist, weil ansonsten die einfache Gesetzgebung es in der Hand hätte, die im Art. 63 des Staatsvertrages von Saint Germain verfassungsgesetzlich gewährleistete Freiheit der Religionsübung jederzeit zu beseitigen oder zu beschränken. Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes ist vielmehr der Begriff „öffentliche Ordnung” der Inbegriff der die Rechtsordnung beherrschenden Grundgedanken. Bezogen auf die zur Entscheidung stehende Frage wird deshalb der Begriff „öffentliche Ordnung” von den im österreichischen Verfassungsrecht niedergelegten Prinzipien der Glaubens- und Gewissensfreiheit beherrscht. Die solcherart verfassungsmäßig gewährleistete Übung der Glaubens- und Gewissensfreiheit, wozu die Vornahme religiöser Feierlichkeiten einer Eheschließung gehört, kann sohin nicht der öffentlichen Ordnung widersprechen. Die Frage der Unvereinbarkeit einer Kulthandlung mit den guten Sitten kann im Zusammenhang mit § 67 des PersStG. überhaupt nicht aufgeworfen werden, da sich der Rechtsgehalt dieser Bestimmung in der Normierung eines Zeitpunktes für die Vornahme der religiösen Feierlichkeit einer Eheschließung erschöpft.

Angesichts dieser Rechtslage kann es dahingestellt bleiben, ob § 67 PersStG. auch gegen den nach Art. 7 B.-VG. in der Fassung von 1929 verfassungsgesetzlich geschützten Grundsatz der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, bzw. gegen das im Art. 14 StGG. gesondert verfassungsmäßig gewährleistete Recht der vollen Glaubens-und Gewissensfreiheit verstößt.

§ 67 des PersStG. vom 3. November 1937, DRGBl. I S. 1146, war daher wegen des Widerspruches mit Art. 15 StGG. und Art. 63 Abs. 2 des Staatsvertrages von Saint Germain als verfassungswidrig aufzuheben.